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Ich gab mein Bestes, die große Tüte mit Wäsche zu tragen ohne das etwas herausfiel. Wir wohnten in einem großen Mietshaus in einer Stadt im Ruhrgebiet. Der Flur war dunkel und der Geruch nach abgestandenem Essen und gewohnheitsmäßiger Enttäuschung ließ ihn noch enger wirken als er ohnehin schon war. Vor unserer Wohnungstür angekommen, spürte ich plötzlich die grellrote Energie meiner Mutter im Rücken. Ich konnte gerade noch die Wäschetüte absetzen und mich ducken. Die Faust traf mich so nur an der Schulter und nicht, wie sonst, in der Nierengegend. „Du blöde Kuh! Du hast den Schlüssel vergessen! Was machen wir jetzt? Ich muss arbeiten!“, schrie sie mich an.
Ich war fünf Jahre alt.
Fünfzig Jahre später nehme ich die gefährliche grellrote Energie, die ich früh durch meine Mutter kennengelernt habe, immer noch häufig wahr. Im Supermarkt, Im Zug, in Zoom Räumen und besonders in den sozialen Medien – sie ist wirklich nicht selten. Häufiger noch sehe ich ihre Vorbotin, eine dunkellila oder auberginefarbene Ausstülpung, die über der grellroten Energie liegt. Unkontrollierte Aggression und der Versuch, diese, aus Angst vor sozialer Sanktion, zu kontrollieren.
Für mich sind diese Zustände oder Energien nicht nur fühlbar, ich kann sie auch „sehen“.
Als Kind war ich täglich von dieser Energie umgeben, sie war oftmals lebensgefährlich für mich. Ich überlebte.
Ich überlebte sicherlich auch, weil ich vorhersehen konnte, wann der Ausbruch von dunkellila zu grellrot unmittelbar bevorstand.
Vor allem aber überlebte ich, weil ich wusste, dass die gewaltvolle und missbräuchliche Zeit meiner Kindheit nicht andauern würde. Denn ich konnte viel mehr sehen als nur die Gefahr, die von meiner Mutter ausging.
Ich sah die Schönheit in den Seelen vieler Menschen und auch in meiner Seele.
Dadurch wusste ich, dass die vernichtenden Beschimpfungen und Abwertungen, die ich zu Hause über mich hören musste, keine Wahrheit in sich trugen.
Intuitiv wusste ich, dass ich wertvoll war, und dass mein Leben wertvoll war.
In den dunkelsten Stunden meiner Kindheit und Jugend, während Gewalt und Missbrauch, habe ich meinen Körper verlassen und mich auf die Seelenebene konzentriert.
Dieser Ebene war und ist für mich ein Ort im Kosmos, in dem ich reine Energie bin und reine Energie wahrnehme. In diesem Ort bin ich frei und erfahre gleichzeitig eine erfüllende Verbundenheit mit allem was ist.
In meiner Kindheit und Jugend gab mir dieser Ort vor allem Sicherheit und Schönheit. Dort war es immer hell, ruhig, liebevoll und sicher.
Ich hatte kein zu Hause und keine Eltern im eigentlichen Sinne, und so wurde die Seelenebene mein zu Hause.
Ich hinterfragte als kleines Kind natürlich nicht was ich sah, es war ganz natürlich für mich. Ich konnte Farben um Menschen herum sehen, wusste genau wie sie sich fühlen, sah` was sie gerne verbergen wollten, wo sie physische Schmerzen hatte und hatte klare Ahnungen, wenn sich jemandes Leben dem Ende näherte. Mit Tieren zu kommunizieren war leicht für mich und ich nahm allerlei Wesenheiten wahr, die andere nicht wahrnahmen. Manchmal erschienen mir diese Wesenheiten im Traum, oft unterhielt ich mich mit ihnen bevor ich einschlief, sie schenkten mir immer Trost und Gewissheit.
Als Kind wusste ich nicht, dass diese Wahrnehmungen intuitive Wahrnehmungen waren, und ich machte mir auch keine Gedanken darüber.
Ein Therapeut hat mich einmal als Polarblume bezeichnet: „Es gibt Menschen, die erblühen, obwohl sie in extrem lebensfeindlicher Umgebung aufgewachsen sind. Wir wissen noch nicht warum das so ist, aber wir wissen: sie sind selten, aber es gibt sie. Polarblumen nenne ich Menschen wie Sie.“
Vielleicht war oder bin ich eine Polarblume. Ich mag das Bild, auch wenn ich mich mittlerweile eher als eine der bunten Blumen auf der Wildblumenwiese meines Lebens sehe.
Warum ich trotz mehr als schlechter Startbedingungen „erblüht“ bin, weiß ich ziemlich genau: weil ich den Zugang zur Stimme meiner Seele, zu meiner Intuition, nie verloren habe.
Ich weiß nicht wie oft ich in meinem Leben den Satz „das bildest du dir bloß ein“ gehört habe, wenn ich meine intuitive Wahrnehmung verbalisiert habe. Unzählige Male. Nicht umsonst kämpfen die meisten Teilnehmerinnen des Intuitionstrainings Monate, wenn nicht sogar Jahre, mit der Unsicherheit, sich alles was sie wahrnehmen, nur einzubilden.
Letztlich ist das vernichtende Urteil: „Das bildest du dir ein“, Ausdruck von Unsicherheit und Unvermögen einem Raum gegenüber, von dem wir alle wissen, dass er existiert und einen großen Einfluss hat – bei gleichzeitigem Wissen, das wir nicht die geringste Ahnung haben, wer wir in diesem Raum sind und wie wir uns darin verhalten können und sollen. Aber eins ist sicher: Wir können uns daran erinnern, wie es geht ein intuitives Leben zu führen.